4

 

Tegan warf das letzte von Elises Jagdsouvenirs in einen abgelegenen Abschnitt des Charles River und sah zu, wie sich das dunkle Wasser kräuselte, als das Handy in der Brühe versank.

Wie all die anderen, die er und die anderen Krieger auf ihren Patrouillen konfisziert hatten, würden die verschlüsselten Handys dem Orden nichts nützen. Und er würde sie garantiert nicht bei Elise lassen, deaktivierte GPS-Chips hin oder her.

Himmel, er konnte nicht glauben, was sich diese Frau geleistet hatte. Noch unglaublicher war, dass ihre verrückte Vendetta schon Wochen, wenn nicht Monate dauerte. Offensichtlich hatte ihr Schwager keine Ahnung davon, oder der ehemalige Musteragent der Dunklen Häfen hätte der Sache schnell ein Ende bereitet. Jeder Angehörige des Ordens wusste, dass Sterling Chase einst tiefere Gefühle für die Witwe seines Bruders gehegt hatte - und daran hatte sich seither vermutlich nichts geändert.

Nicht, dass es Tegan etwas anging. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sich Elise offensichtlich den Tod wünschte.

Tegan rammte die Hände in die Taschen seines offen stehenden Ledermantels und ging zur Straße zurück, sein Atem verließ seine Lippen in einer Dampfwolke. Wieder einmal schneite es in Boston. Ein stürmischer Vorhang feiner weißer Flocken fiel auf die Stadt herunter, die schon seit Wochen in eisiger Winterstarre lag. Der Winter in diesem Jahr war ungewöhnlich kalt. Tegan wusste, dass die Lufttemperatur weit unter Null lag, aber er spürte die Kälte nicht. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er sich das letzte Mal in irgendeiner Weise körperlich unwohl gefühlt hatte. Das letzte Mal, dass er Freude empfunden hatte, war sogar noch länger her.

Zur Hölle, wann war es gewesen, dass er das letzte Mal auch nur irgendetwas empfunden hatte?

Er erinnerte sich an Schmerz.

Und an Verlust, die Wut, die ihn einst verzehrt hatte … vor langer, langer Zeit.

Er erinnerte sich an Sorcha und wie sehr er sie geliebt hatte.

Daran, wie süß und unschuldig sie gewesen war, und wie unendlich sie ihm vertraut hatte; darauf, dass sie bei ihm in Sicherheit war, dass er sie beschützte.

Gott, wie sehr er sie im Stich gelassen hatte! Er würde nie vergessen, was ihr angetan worden war, wie grausam man sie misshandelt hatte. Um den Schlag zu überleben, den ihr Tod ihm versetzt hatte, hatte er gelernt, seinen Kummer und seine rohe Wut von sich abzuspalten. Aber vergessen konnte er nie, und er würde niemals vergeben.

Nach über fünfhundert Jahren, die er nun schon Rogues abschlachtete, war ihm noch nicht annähernd gelungen, diese alte Rechnung zu begleichen.

Etwas von demselben Kummer hatte er heute Abend in Elises Augen gesehen. Etwas, das sie mehr geliebt hatte als ihr Leben, war ihr genommen worden, und sie wollte Gerechtigkeit. Was sie bekommen würde, war der Tod. Wenn ihr Umgang mit den Rogues und deren menschlichen, mental gesteuerten Sklaven sie nicht umbrachte, würde es die Schwäche ihres Körpers tun. Elise hatte versucht, ihre Erschöpfung vor ihm zu verbergen, aber sie war Tegan trotzdem nicht entgangen. Die Abgespanntheit, die er in ihr sah, ging tiefer als reine körperliche Erschöpfung, obwohl er mit einem Blick auf ihre ausgezehrte Gestalt sehen konnte, dass sie sich vernachlässigte, seit sie ihren Dunklen Hafen verlassen hatte - vielleicht auch schon länger. Und was sollte die Schallisolierung, die sie an die Wände ihrer Behausung genagelt hatte?

Scheiße. Kann mir doch egal sein.

Es ging ihn wirklich überhaupt nichts an, erinnerte er sich, als er auf das geheime Hauptquartier des Ordens zutrottete, das etwas außerhalb der Stadt lag. Das alte, aus Ziegeln und Kalksteinblöcken erbaute Herrenhaus und die umliegenden weitläufigen Ländereien waren von einem hohen, elektrischen Sicherheitszaun und einem massiven Eisentor umgeben, die mit Kameras und Bewegungsmeldern ausgerüstet waren. Es hatte noch nie jemand auch nur annähernd geschafft, dort einzubrechen.

Nur sehr wenige Angehörige der Vampirbevölkerung wussten, wo genau sich dieser Ort befand. Und diejenigen, die ihn kannten, waren sich im Klaren darüber, dass das Anwesen im Besitz des Ordens war, und klug genug, sich fernzuhalten, es sei denn, sie bekamen eine direkte Einladung. Was die Menschen anging, waren die vierzehntausend Volt völlig ausreichend, um Neugierige fernzuhalten. Die von der dümmeren Sorte kamen nach dem Kontakt mit der Einzäunung entweder halb gegrillt wieder zu sich oder hatten einen monstermäßigen Kater, nachdem die Krieger ihnen das Gedächtnis gesäubert hatten - keine dieser Optionen war besonders angenehm, allerdings waren beide äußerst effektiv.

Tegan tippte seinen Zugangscode in den verborgenen Ziffernblock der Schließanlage neben dem Tor und schlüpfte hinein, als die schweren eisernen Torflügel sich teilten, um ihn durchzulassen.

Sobald er im Inneren war, verließ er die lange, asphaltierte Auffahrt und ging querfeldein durch das bewaldete Grundstück.

Etwa siebzig Meter vor ihm konnte er durch das schneebedeckte Fichtendickicht schwach die Lichter des Anwesens sehen. Obwohl sich das wahre Hauptquartier der Krieger unterirdisch, unter dem neogotischen Prachtbau befand, war es durchaus üblich, dass einer oder mehrere Krieger und ihre Gefährtinnen das Haus abends für Abendessen oder gesellige Anlässe benutzten.

Aber wer auch immer heute Abend dort war, hatte alles andere als angenehmen Zeitvertreib im Sinn.

Als sich Tegan dem Gebäude näherte, hörte er ein wildes, animalisches Brüllen, gefolgt vom Geräusch splitternden Glases.

„Was zum …“

Wieder ertönte ein lautes Krachen, noch ungestümer als das erste Mal. Das Geräusch kam offenbar aus dem opulenten Foyer des Herrenhauses. Es klang, als schlüge dort jemand - oder etwas - alles kurz und klein. Tegan sprang die Marmortreppe zum Haupteingang hinauf und drückte gegen das verwitterte, schwarz lackierte Holz, eine Klinge in der Faust. Als er hineinging, knirschten seine Stiefel auf einem Teppich von Porzellan- und Glasscherben.

„Du lieber Himmel“, murmelte er und sah sich nach dem Verursacher der Zerstörung um.

An eine antike Kredenz in der Mitte des gefliesten Foyers gelehnt stand ein Krieger, seine vernarbten, olivbraunen Hände auf die mit Schnitzereien verzierten Kanten des Möbelstücks gestützt, als ob das allein ihn aufrecht hielt. Er war völlig durchnässt, sein Oberkörper nackt und er trug nur eine lose, graue Baumwolltrainingshose, die aussah, als wäre er eben erst hastig hineingefahren. Sein dunkler Kopf hing tief herunter, lange, espressofarbene Haarsträhnen hingen ihm übers Gesicht, glatt und glänzend vor Nässe. Die Dermaglyphen, die sich über seine nackte Brust und Schultern zogen, waren von intensiver Farbe, das komplizierte Muster der Stammeszeichen pulsierte wütend auf seiner Haut.

Tegan ließ seine Waffe sinken und hielt die Klinge mit der Hand verdeckt, bis er sie wieder in die Scheide gesteckt hatte.

„Alles klar, Rio?“

Der Krieger stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus, weniger Begrüßung als ein Nachbeben seines Wutanfalls. Wasser rann an ihm herunter und sammelte sich zu einer Pfütze um seine nackten Füße und die verstreuten Scherben einer unbezahlbaren Limoges-Schüssel, die er eben von der Kredenz gefegt hatte. Die Oberfläche des Mahagonischrankes war von Glasscherben bedeckt; den Spiegel im vergoldeten Stuckrahmen, der über der Kredenz an der Wand hing, hatten die blutigen Fingerknöchel von Rios rechter Hand in Stücke geschmettert.

„So spät noch am Umdekorieren, alter Junge?“ Tegan ging näher an ihn heran, die Augen fest auf den wutverkrampften, muskulösen Körper des Kriegers gelichtet. „Wenn es dich tröstet, für diesen französischen Schickimickischeiß hatte ich auch noch nie was übrig.“

Rio stieß einen rauen, bebenden Atemzug aus und warf dann den Kopf herum, um Tegan anzusehen. In seinen topasfarbenen Augen lag immer noch ein bernsteingelber Schimmer, ihr Licht fuhr durch den dunklen Vorhang seines Haares und strahlte die Hitze des Wahnsinns ab, der nach wie vor in ihm brodelte.

Zwischen seinen geöffneten Lippen schimmerte der knochenweiße Glanz seiner voll ausgefahrenen Fangzähne, als er die Luft durch die Zähne sog.

Tegan wusste, dass es nicht Blutgier war, die die wilde Seite des Kriegers ausgelöst hatte. Es war Wut. Und Gewissensbisse.

Ihr metallischer Geschmack erfüllte die Luft, strahlte in heißen Wellen von Rio ab.

„Ich hätte sie töten können“, keuchte er mit einer heiseren, gequälten Stimme, die so gar nichts mit dem üblichen weichen Bariton des Spaniers gemein hatte. „Ich musste da sofort raus, pronto. Irgendwie bin ich plötzlich … ausgetickt, verdammt noch mal.“ Mit einem raubtierhaften Zischen holte er keuchend Luft. „Scheiße, Tegan … ich wollte - musste - jemandem wehtun.“

Jeder andere wäre von diesen Worten wohl beunruhigt gewesen, doch Tegan beobachtete Rio nur ruhig, betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die von Brandnarben und Splitterwunden verunstaltete linke Seite von Rios Gesicht, die zwischen den nassen Haarsträhnen hervorschimmerte. Es war nicht viel übrig von dem gut aussehenden, kultivierten Mann, der einst das entspannteste Mitglied des Ordens gewesen war, immer einen Scherz oder ein Lächeln auf den Lippen. Die Explosion, die er im letzten Sommer knapp überlebt hatte, hatte ihm sein gutes Aussehen für immer genommen, und die Enthüllung, dass es seine eigene Stammesgefährtin Eva gewesen war, die ihn verraten und in den tödlichen Hinterhalt gelockt hatte, hatte ihm den Rest gegeben.

„Madre de Dios“, flüsterte Rio heiser. „Keiner sollte in meiner Nähe sein. Ich verliere meinen verdammten Verstand! Was, wenn ich … Cristo, was, wenn ich ihr etwas antue? Tegan, was, wenn ich ihr wehtue?“

Tegans Sinne wurden auf der Stelle in Alarmbereitschaft versetzt. Der Krieger redete nicht von Eva. Sie hatte sich selbst gerichtet, an dem Tag, als ihr Verrat entdeckt worden war. Die einzige andere Frau, mit der Rio jetzt regelmäßigen Kontakt hatte, war Tess, Dantes Gefährtin. Seit ihrer Ankunft im Hauptquartier vor einigen Monaten hatte Tess mit Rio gearbeitet. Sie setzte ihre Gabe der heilenden Berührung ein, um seinen zerschmetterten Körper zu heilen, so gut sie konnte, und versuchte, ihm zu helfen, sich von den körperlichen und seelischen Blessuren zu erholen, die er bei seinem Unfall davongetragen hatte.

Ach, Scheiße.

Wenn der Krieger sie verletzt hatte, zufällig oder absichtlich, würde es ernsthaften Ärger geben. Dante liebte seine Frau mit einer Intensität, die alle anderen im Hauptquartier überraschte.

Früher der rücksichtslose Tunichtgut, war Dante von Tess komplett um den Finger gewickelt worden, und was die anderen darüber dachten, war ihm egal. Wenn seiner Gefährtin etwas zustieß, würde Dante Rio mit bloßen Händen töten.

Tegan zischte einen Fluch. „Was hast du getan, Rio? Wo ist Tess jetzt?“

Rio schüttelte unglücklich den Kopf und machte eine vage Geste in Richtung des hinteren Flügels des weitläufigen Herrenhauses. Tegan war schon dabei, in die angegebene Richtung loszustürmen, als im selben Moment eilige Schritte im langen Korridor ertönten, der vom Hauptflügel des Gebäudes zum hauseigenen, unterirdischen Schwimmbecken führte. Leichte Schritte von nackten Füßen näherten sich, gefolgt von einer besorgten Frauenstimme.

„Rio? Bio, wo bist …“

Quietschend kam Tess um die Ecke geschliddert. Sie trug schwarze Trainingshosen über einem nassen, babyblauen Badeanzug und sah wie eine typische Physiotherapeutin bei der Arbeit aus. Aber jeder Mann, der auch nur halbwegs Augen im Kopf hatte, musste verrückt sein, um nicht zu bemerken, wie atemberaubend sie all das Nylon und Lycra ausfüllte. Ihr langes, honigbraunes Haar wurde in einem Pferdeschwanz zusammengehalten, an den Haarspitzen feucht und lockig vom Wasser des Pools. Nackte Füße mit pfirsichfarben lackierten Zehennägeln blieben abrupt am Rand des Trümmerfeldes aus Porzellanscherben stehen.

„Oh, mein Gott. Rio … bist du in Ordnung?“

„Er ist okay“, sagte Tegan zu ihr. „Und du?“

Tess hob unwillkürlich die Hand an den Hals, aber sie nickte. „Mir geht’s gut. Rio, bitte sieh mich an. Es ist okay. Wie du sehen kannst, fehlt mir absolut nichts.“

Aber irgendetwas war vor wenigen Minuten vorgefallen, das war offensichtlich. „Was ist passiert?“

„Wir hatten bei unserer heutigen Sitzung ein paar Rückschläge, aber nichts Ernstes.“

„Sag ihm, was ich mit dir gemacht habe“, murmelte Rio.

„Sag ihm, wie ich im Becken weggetreten und erst wieder zu mir gekommen bin, als ich dir die Hände um den Hals gelegt und dich gewürgt habe.“

„Heilige Muttergottes“, knurrte Tegan, und nun, als Tess die Finger vom Hals nahm, konnte er dort verblassende Würgemale sehen. „Und du bist okay, bist du sicher?“

Sie nickte. „Er hat es nicht so gemeint und sofort losgelassen, als er erkannte, was er da gerade tat. Mir geht’s gut, wirklich.

Und ihm wird es auch wieder besser gehen. Das weißt du doch, Rio, nicht wahr?“

Vorsichtig, um nicht auf Scherben zu treten, kam Tess auf sie zu, doch sie hielt dabei eine gesunde Distanz zu Tegan, als wäre er eine größere Bedrohung ihrer Sicherheit als das verwilderte Wrack, das Rio war.

Tegan nahm es ihr nicht übel. Seine bevorzugte Lebensweise war die des Einzelgängers, und er arbeitete hart daran, dass es auch so blieb. Er sah zu, wie sich Tess langsam auf Rio zubewegte, der immer noch in seiner steifen Haltung an die Kredenz gekrallt dastand.

Sanft legte sie dem Krieger die Hand auf die vernarbte Schulter. „Ich bin mir sicher, morgen wird es besser gehen. Jeder Tag bringt uns kleine Fortschritte.“

„Es wird nicht besser“, murmelte Rio. Es hätte nach Selbstmitleid klingen können, schien aber mehr wie ein düsteres Begreifen. Mit einem wütenden Aufknurren schüttelte er Tess’

Hand ab. „Man sollte mich einschläfern. Das wäre ein Segen …

für alle, besonders für mich. Ich bin nutzlos. Dieser Körper - mein Verstand - alles nutzlos geworden, verdammt noch mal!“

Rio knallte die Faust auf die Kredenz, brachte die Spiegelscherben zum Klirren und das zweihundert Jahre alte Mahagoni zum Beben.

Tess zuckte zurück, aber in ihren blaugrünen Augen lag Entschlossenheit. „Du bist nicht nutzlos. Um zu heilen, braucht es Zeit, das ist alles. Du kannst jetzt nicht aufhören.“

Rio knurrte böse vor sich hin, in seinen halb geschlossenen Augen lag ein warnender bernsteingelber Glanz. Aber nicht einmal das wilde Wutgeheul eines halb wahnsinnigen Vampirs konnte Tess davon abbringen, ihm zu helfen, wenn sie dazu in der Lage war. Zweifellos hatte sie dieses widerborstige Verhalten schon öfters an Rio - und wahrscheinlich auch an ihrem eigenen Gefährten - gesehen, und war nicht vor Schreck davongerannt.

Tegan sah Tess zu, wie sie aufrecht, ruhig und beharrlich dastand. Es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, warum Dante sie so vergötterte. Aber Tegan konnte auch sehen, dass sich Rio in einem besonders labilen, unberechenbaren Zustand befand.

Er wollte niemandem etwas Böses - und schon gar nicht Tess, deren außerordentliche Heilerinnengabe ihn vor einer Psychose bewahrt hatte -, aber Wut und Verzweiflung waren ein gefährlicher emotionaler Cocktail. Das wusste Tegan aus erster Hand, vor langer Zeit hatte er Ähnliches durchgemacht. Wenn man noch die Nachwirkungen einer traumatischen Gehirnverletzung, wie Rio sie erlitten hatte, dazunahm, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Krieger in die Luft ging wie eine angezündete Stange Dynamit.

„Lass mich das machen“, sagte Tegan, als Tess Anstalten machte, sich Rio erneut zu nähern. „Ich nehme ihn mit runter ins Hauptquartier. Da wollte ich sowieso gerade hin.“

Sie schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln. „In Ordnung.

Danke dir.“

Tegan näherte sich Rio mit zielstrebigen Bewegungen und führte ihn vorsichtig von der Frau fort und aus dem Trümmerfeld hinaus, das sich um ihre Füße ausbreitete. Der große Mann ging mit schweren Schritten, ohne die natürliche Grazie, die er einst besessen hatte. Rio stützte sich schwer auf Tegans Schulter und Arm, sein nackter Oberkörper hob und senkte sich schwer mit jedem Atemzug, den er mühsam in seine Lungen sog.

„So ist’s gut, immer schön langsam“, wies Tegan ihn an.

„Fühlen wir uns schon besser, amigo?“

Der dunkle Kopf nickte unbeholfen.

Tegan sah zu Tess hinüber, wie sie sich hinkniete und anfing, die verstreuten Glas- und Porzellanscherben von den Fliesen des Foyers einzusammeln. „Hast du Chase heute Abend schon gesehen?“

„Schon länger nicht“, meinte sie. „Er und Dante sind immer noch draußen auf Patrouille.“

Tegan verzog spöttisch das Gesicht. Vor vier Monaten waren die beiden Männer einander noch fast an die Kehle gegangen.

Lucan hatte die beiden als unfreiwillige Partner zusammengespannt, als Sterling Chase, Agent der Dunklen Häfen, mit der Neuigkeit von einer gefährlichen Clubdroge namens Crimson im Hauptquartier aufgetaucht war und den Orden um Hilfe gebeten hatte, das üble Zeug von der Straße und aus dem Handel zu bringen. Inzwischen waren er und Dante draußen im Feld praktisch unzertrennlich, seit dem Tag, an dem Chase die Dunklen Häfen verlassen hatte und offiziell dem Orden beigetreten war.

„Die beiden haben schon was von Stan und Ollie, nicht?“

In Tess’ Augen lag Belustigung, als sie von dem Chaos vor ihr auf dem Boden aufsah. „Eher was von Chico und Groucho von den Marx-Brothers, wenn du mich fragst.“

Tegan stieß ein trockenes Lachen aus und steuerte Rio den Korridor hinunter. Er führte ihn zum Fahrstuhl des Anwesens, ging mit ihm hinein und tippte den Sicherheitscode ein, um die Reise zum unterirdischen Hauptquartier des Ordens anzutreten.

 

Nachdem er Rio in seiner Wohnung im Hauptquartier abgeladen hatte, ging Tegan zum Techniklabor, um sich zurückzumelden. Gideon saß wie üblich auf seinem Posten. Der blonde Vampir rollte auf seinem Bürostuhl hin und her und übte seine Zauberkräfte auf nicht weniger als vier verschiedenen Computerterminals gleichzeitig aus. Ein schnurloses Headset am Ohr, gab er eben eine Reihe Koordinaten über das kleine Mikrofon durch.

Als perfekter Multitasker sah Gideon auf, als Tegan das Labor betrat, winkte ihn zu sich herüber und rief auf einem der Bildschirme eine Reihe Satellitenaufnahmen auf. „Niko hat vielleicht eine Spur zu diesem Crimson-Labor gefunden“, informierte er Tegan und nahm dann sein Telefongespräch wieder auf, während seine Finger über die Tastatur eines anderen Terminals huschten. „Gut. Ich lasse sofort einen Check-up durchlaufen.“

Tegan starrte die Fotos an, die Gideon auf den Schirm gezaubert hatte. Einige waren bekannte Roguenester - die meisten davon ehemalige, dank der Bemühungen des Ordens. Andere Bilder zeigten Rogues und Lakaien, wie sie diverse Örtlichkeiten in und um die Stadt aufsuchten oder verließen. Ein Gesicht fiel Tegan dabei besonders auf. Es war der menschliche Crimson-Dealer, Ben Sullivan.

Obwohl Dante den Bastard im letzten November ausgeschaltet hatte, war der Ort seines Produktionslabors bislang noch unbekannt. Die Probleme mit der Droge hatten in den Monaten, die der Orden sich um die Sache kümmerte, etwas nachgelassen, aber solange die Rogues die Mittel besaßen, mehr von diesem Dreck zu produzieren, war die Bedrohung, dass der Crimson-Konsum unter den Stammesvampiren wieder zunahm, nach wie vor gegeben.

„Warte mal. Ich kriege hier gerade einen Treffer rein. Die Daten passen zu einem Ort in Revere“, sagte Gideon gerade. „Ja, ich schätze, das ist eine heiße Spur. Wollt ihr Jungs eine Spritztour den Chelsea River runter machen und schauen, was ihr da findet?“

Tegan betrachtete das Foto von Ben Sullivans grinsendem, selbstgefälligem Gesicht. Der Typ hatte mit seiner Droge eine Menge junge Vampire auf dem Gewissen, einschließlich Camden Chase, Elises Sohn. Gäbe es Crimson nicht, wäre der Junge nie im Leben zum Rogue mutiert, der abgeschlachtet werden musste. Und eine Frau von Elises Herkunft müsste sich nicht in einem Rattenloch in der Innenstadt verkriechen, außer sich vor Kummer und Wut, völlig besessen von ihrem mütterlichen Rachetrip, der vermutlich auch sie das Leben kosten würde.

Tegan wurde es schwer ums Herz, als er an all das Blutvergießen dachte, all die langen Jahrhunderte, in denen er und die anderen schon diesen Kampf gegen die mutierte Splittergruppe des Stammes ausfochten. Dabei gab es natürlich nicht nur Zeiten höchster Aktivität, sondern auch Flauten - Zeiten, in denen es relativ friedlich zuging, aber die Unruhe war unterschwellig immer da. Die Blutgier war tief in seiner Spezies verankert, ihr gärender, zersetzender Einfluss auf das Vampirvolk allgegenwärtig spürbar.

„Es wird nie aufhören, nicht?“

„Was sagst du?“

Dass er laut gesprochen hatte, erkannte Tegan erst, als er Gideon einen Blick zuwarf, der ihn über den Rand seiner hellblau getönten Sonnenbrille hinweg betrachtete. Tegan schüttelte den Kopf. „Nichts.“

Er stapfte von den Computerterminals fort, seine Gedanken dunkel und aufgepeitscht. Gideon drehte sich wieder zu seinen Monitoren um und ließ die Finger klickend über eine Tastatur huschen. Wieder füllte eine Satellitenaufnahme den Bildschirm, sie zeigte eine alte Industrieparzelle unweit des Flussufers.

Tegan kannte den Ort. Mehr brauchte er nicht.

„Klar, Niko“, sagte Gideon eben in sein Mikrofon. „In Ordnung. Klingt gut. Wenn euch die Sache da drüben zu heiß wird, schrei nach Verstärkung. Dante und Chase sind weniger als eine Stunde von euch entfernt, und Tegan ist … hier …“

Aber Tegan war fort.

Er stapfte zielstrebig den Korridor vor dem Techniklabor hinauf, und Gideons Stimme verhallte hinter ihm, als sich die automatische Glastür des Labors mit einem Zischen schloss.

Midnight Breed 03 - Geschöpf der Finsternis-neu-ok-13.11.11
titlepage.xhtml
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_000.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_001.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_002.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_003.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_004.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_005.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_006.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_007.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_008.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_009.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_010.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_011.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_012.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_013.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_014.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_015.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_016.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_017.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_018.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_019.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_020.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_021.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_022.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_023.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_024.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_025.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_026.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_027.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_028.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_029.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_030.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_031.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_032.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_033.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_034.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_035.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_036.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_037.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_038.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_039.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_040.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_041.htm
Midnight Breed 03 - Geschopf der Finsternis-neu-ok-13.10.11_split_042.htm